
Aus der Schwäbischen Zeitung vom 4.3.2021
Ungewöhnliche Darstellung eines Kreuzweges
Der neugestaltete Kirchenraum der Martinskirche, der zum Kirchenjubiläum im Jahr 2019 eingerichtet wurde, ist schon für vielerlei spirituelle Formen genutzt worden, von Anfang an auch für Kunst in Form der von Sara Opic geschaffenen Skulptur „Die Zuhörerin“, von der sich die Kirchengemeinde im vergangenen Jahr verabschieden musste. Ein neues Kunstobjekt bereichert und belebt nun wieder diesen Raum, auch mit der Absicht, den Kirchenraum durch Veränderung neu wahrzunehmen. Wenn man über die Stufen den von Tüchern abgeschirmten Raum betritt, sieht man sich in Kreuzform aufgestellten weißen Wänden gegenüber, an denen reihum 15 grafische Bildtafeln platziert sind und zum Hinsehen zwingen. Zunächst scheint man ein Spiel mit ornamentalen schwarzen Formen zu erkennen, vielleicht sogar einen Rorschachtest, wirkend wie ein Scheren- oder Linolschnitt.
Bei näherem Hinsehen jedoch erkennt man Figuren in Aktion, dazwischen ein Kreuz. Und man versteht, es handelt sich um einen Kreuzweg in der raffinierten Anordnung einer vielfältigen Spiegelung. Jede Bildtafel birgt ein Motiv, eine Station des Kreuzwegs, jeweils 16mal gespiegelt nach allen Richtungen, so dass sich eine ganz neue bildnerische Szenerie entfaltet. Unterlegt sind die 15 Szenen bzw. Stationen mit je einem Wortbegriff in einem sanftroten Ton und in serieller Anordnung auf gebrochenem weiß. Worte, wie „urteil“, „stürzen“, „trost“, „fallen“,“ mitleid“, „sterben“, „auferstanden“ verdeutlichen das Leidensgeschehen. Diese zu den vielfach gespielten Szenen gehörigen Wortaussagen sind ein Hinweis, dass viele Dinge wiederkehren können. Gibt es doch immer wieder Anlässe zu „weinen“ oder zu „fallen“. Es ist anregend, vor diesen Bildtafeln innezuhalten Gestaltet hat dieses 15 teilige Werk Claudio Uptmoor, einer der Urheber des neuen Kirchenraums. Er hat die Motive am PC entwickelt, die Vorlagen sind dann auf Acrylplatten gedruckt worden. Die 15 Stationen beginnen am Eingangsbereich mit der Auferstehung, Matthias Grünewald nachempfunden. Blickt man sich in der Kirche um, wird auch ein Vergleich mit den Kreuzwegdarstellungen an den Seitenwänden der Martinskirche von Gebhard Fugel (1863 – 1939) interessant, wenn sich zwei unterschiedliche Darstellungsweisen gegenüberstehen. Die eine realistisch und farbig gemalt, die andere auf schwarze Silhouetten reduziert und mit neuer Technik angefertigt. Die Symbolik ist bei beiden Darstellungsarten jedoch dieselbe.
Zu besichtigen ist der moderne Kreuzweg noch bis Palmsonntag. Die Kirche ist geöffnet.
Otto Schöllhorn